Der Bänkeschnitzer mit der Motorsäge

Auf der kleinen Insel Dänholm bei Stralsund hat sich Raik Vicent ein Reich aus motorgesägtem und geflextem Holz geschaffen. Täglich hört man hier das Knattern seiner Motorsäge, wenn er mit sicherer Hand neue Skulpturen aus mächtigen Baumstämmen hervorholt und dem Winkelschleifer mit dem er Feinheiten nacharbeitet. In einer Freiluft-Atelierfläche und Ausstellungshalle von über 300 Quadratmetern stehen rund 120 seiner Holzskulpturen – einige bis zu acht Meter hoch. Aus alten, knorrigen Bäumen schnitzt er Figuren, die von der Küste und ihren Mythen erzählen: den Meeresgott Poseidon mit einer Nixe, einen Seemann am Steuer eines Schiffes, Tiere des Waldes und Gesichter von Menschen. Und – natürlich – Bänke. In Vicents Händen erwacht Holz geschlagener Stämme zum Leben. Jeder Span, der zu Boden fällt, kündet vom Übergang eines Rohstamms in ein Kunstwerk. Was einst ein vielleicht oder wahrscheinlich un- oder wenig beachteter Baum war, formt der Bildhauer nun zu etwas Neuem – mit Besessenheit und Hingabe, wie er selbst sagt. Vicents bevorzugtes Material ist Holz in all seinen Facetten – ob Eiche, Buche oder Kastanie, jeder Baumstamm birgt für ihn eine eigene Geschichte ein es – früher – lebenden Baumes. Mit der Kettensäge und Winkelschleifer als seinen Werkzeugen der Wahl gestaltet er grob die Form, lässt unter lautem Sägekreischen rohe Silhouetten entstehen. Dann arbeitet er mit Feinsinn die Details heraus, bis Maserungen zu Muskeln werden und Astgabeln zu Armen. Seine Technik vereint Kraft und Feingefühl. Was als Hobby begann, wurde nach 2002 zu seinem Beruf: Der gelernte Maschinenbauer entdeckte in einer Phase der Arbeitslosigkeit seine wahre Berufung und eröffnete im Jahre 2003 seine Kunsthalle auf dem Dänholm. Seitdem folgen aus rohem Holzwerk immer neue Ideen – jede vollendete Skulptur gebiert im Geiste des Künstlers schon die Ideen für die nächsten.

So füllen sich Hausgärten und öffentliche Plätze der Region mit Vicents Volkskunst für Haus, Hof und Garten, wie er es augenzwinkernd nennt. Doch neben beliebten Dekorfiguren schafft er immer wieder auch monumentale Werke, die Geschichten tragen und von der lokalen Kultur inspiriert sind.  

Titel2Eines der außergewöhnlichsten Projekte, denen Raik Vicent in jüngerer Zeit seine Schaffenskraft gewidmet hat, sind die „Künstlerbänke von Wittow“. Auf der windgepeitschten Halbinsel Wittow im Norden Rügens entstand im Jahr 2019 ein Freiluft-Ensemble aus insgesamt elf liebe- und kunstvoll gestalteten Holzbänken. Initiiert vom Tourismusverein Nord-Rügen e.V. im Rahmen des Projekts Kult(o)ur – gefördert durch EU-LEADER-Mittel, Sponsoren, Spenden und Eigeninitiative – wurden an elf ausgewählten Orten Bänke aufgestellt, die ganz offenbar mehr sind als reine Draußen-Sitzgelegenheiten. Jede dieser Bänke ist ein Unikat, geschaffen in Vicents Werkstatt und mit seinem untrüglichen Blick für Details veredelt.

Zuvor unscheinbare Rastplätze an Wegesrändern verwandelte der Holzbildhauer in kleine Bühnen der Geschichte. Diese „Themenbänke“ sind den prägenden Persönlichkeiten Wittows gewidmet und machen Vergangenes im wörtlichen Sinn erfahrbar: Man kann sie nämlich auf einer Fahrradtour nacheinander besuchen und so Naturgenuss mit Kultur verbinden. Doch selbst wer ahnungslos auf einer der Bänke Platz nimmt, spürt sofort ihren besonderen Charakter.

Nehmen wir nur die Hans-Fallada-Doppel-Bank als Beispiel: Sie steht an dramatischer Stelle: Auf einer Steilküste mit Blick auf die Ostsee, zwischen Varnkevitz und Kap Arkona. Also genau dort, wo der Schriftsteller Hans Fallada einst spazieren ging und Ideen für Geschichten wie „Lüttenweihnachten“ oder „Nuschelpeter“ oder seinen Roman „Wir hatten mal ein Kind“ sammelte, erinnert nun eine Bank mit geschnitzter Feder und Tintenfass an den berühmten Autor.

Das Holz wird zum Erzähler: In geschwungenen Reliefs, in herausgearbeiteten Symbolen – sei es eine Feder für den Schriftsteller, ein Segel für den Seemann oder ein Kelch für den Pastor – verschmelzen Material und Geschichte. Vicents Kunst lässt die Porträtierten gleichsam anwesend sein. Wer auf diesen Bänken sitzt, fühlt sich, als setze er sich mitten in eine Erzählung hinein. Die „Künstlerbänke von Wittow“ sind mehr als nur Möbelstücke für draußen – sie sind sozialer Treffpunkt, Geschichtsbuch und Kunstinstallation in einem. Entstanden ist das Projekt aus dem Wunsch, die Orte der Halbinsel näher zusammenrücken zu lassen und Gästen wie Einheimischen eine neue Perspektive auf die hiesige Heimat zu bieten. Die Bänke laden Wanderer und Radfahrer ein, innezuhalten und zugleich in die Vergangenheit Wittows einzutauchen. So wird aus einer Rast eine kleine Geschichtslektion unter freiem Himmel. Zugleich fördert das Vorhaben den Gemeinschaftssinn: Für jede Bank hat eine Einwohnerin oder ein Einwohner der Umgebung eine Patenschaft übernommen und kümmert sich um Pflege und Erhalt. Die Bevölkerung fühlt sich dadurch noch enger mit „ihrer“ Bank und der gewürdigten Person verbunden. Künstlerisch betrachtet verbinden Vicents Bänke Form und Funktion auf einzigartige Weise. Sie fügen sich harmonisch in die Landschaft ein und ziehen doch alle Blicke auf sich. Mal stehen sie einsam auf weiter Flur mit Meerblick, mal mitten im Dorfkern – doch immer scheinen sie zu sagen: Setz dich, lausche der Geschichte, die in mir steckt. Vicents bevorzugtes Material, das Holz der heimischen Bäume, passt dabei hervorragend zu den Erzählen der Region: Es ist warm, lebendig gewachsen und geformt von Wind und Wetter – so wie die Geschichten selbst. Jede Bank ist ein Stück lebendige Kultur, das Alt und Jung gleichermaßen anspricht. Familien auf Radtour lachen über die geschnitzten Figuren, Geschichtsinteressierte lesen vertieft die Infotafel, ältere Leute ruhen sich aus und erinnern sich vielleicht an Erzählungen ihrer eigenen Eltern über jene Persönlichkeiten. Am Ende entsteht ein Mosaik aus Erlebnispunkten über die ganze Halbinsel Wittow, das Einwohner wie Besucher miteinander verbindet.

 Vicents Künstlerbänke haben damit sowohl künstlerische als auch gesellschaftliche Bedeutung: Sie verschönern den öffentlichen Raum durch handwerkliche Kunst und schaffen Identifikation mit der eigenen Geschichte. Gefördert durch die Gemeinschaft und für die Gemeinschaft gemacht, sind sie ein Symbol dafür, wie Kunst im ländlichen Raum wirken kann. Das raue Holz der Wittower Bänke ist glatt gesessen von Menschen, die hier verweilen und ins Träumen geraten. Und vielleicht spürt man mit etwas Fantasie den Herzschlag des Holzbildhauers darin nach: Raik Vicents Leidenschaft, die in jede Faser geschnitzt ist, lässt das Holz erzählen – von der Vergänglichkeit der Bäume, der Beständigkeit der Kunst und den Geschichten einer Insel, die in diesen Werken weiterleben. So wird auf Wittow jede Rast zum kulturellen Erlebnis, und die Kunst des Holzbildhauers Raik Vicent findet ihren Weg hinaus in die Welt: unter freien Himmel, dorthin, wo Menschen ihr begegnen können. In einem poetischen Kreislauf kehrt das Holz – einst Teil der Natur – als Träger von Geschichten in die Landschaft zurück. Vicents Werke, ob mächtige Skulpturen auf dem Dänholm oder die liebenswerten Künstlerbänke von Wittow, sind Zeugnisse eines Schaffens, das Natur, Mensch und Geschichte in Einklang bringt. Wer auf einer dieser Bänke sitzt, der sitzt mitten in einer Geschichte aus Holz – und wird selbst für einen Moment Teil davon.